Das Braun bricht aus den Zweigen
Deutschland 75 Jahre danach
Nichts gelernt aus der Geschichte!
Hakenkreuze an der Wand
und NS-Parolen nicht mehr
hinter vorgehaltener Hand.
Man wird doch noch sagen dürfen,
heißt es hier und da und dort.
Auf den Straßen, in den Schulen
wird gemobbt in einem fort.
Auschwitz 25 Jahre danach
Ich habe nicht vergessen
die gebrechliche Frau, die uns führte.
Ich habe nicht vergessen
das Brandzeichen auf ihrem Arm.
Ich habe nicht vergessen
die Schuhe, die Haare, die Öfen …
Ich habe nicht vergessen
die gebrechliche Frau, die sich bedankte
für unser Interesse.
Deutschland 75 Jahre danach
Der Sohn meiner Nachbarin weint.
Sie haben ihn gestern geschlagen,
weil er eine Kippa trug,
gehöhnt, man werde ihn jagen:
„Warte nur balde,
ins Gas!“
Das Braun bricht aus den Zweigen.
Ich ließ – auch ich! – es zu.
Dass ich vorzog zu schweigen,
lässt mir heut keine Ruh.
(aus "Rosentrost")
***
Buchenwälder und Birkenauen
Buchenwälder und Birkenauen
liebe ich, wenn sie Plural stehen.
Im Singular ertrage ich nicht
Birkenau und Buchenwald.
(aus "Rosentrost")
***
Seh ich in Birkenau die Wolken ziehen
In Memoriam Gertrud Kolmar
Mitunter träume ich von einem grünen Kleide,
das mich im Traum flaumfederleicht umhüllt.
Das Kleid: es ist ist aus Dschungelpflanzenseide,
die meine Sehnsucht lindert oder stillt.
Und müsste ich einst fliehen vor den Schergen,
trüg mich das Grüne hin in jenes Papageienland
an dessen Palmenküsten hinter sieben Bergen
schon manche Heimatlose Heimat fand.
Ihr war es nicht vergönnt zu fliehen,
geschweige denn in ihrem grünen Kleid.
Seh ich in Birkenau die Wolken ziehen,
wünsch ich mich weit, weit fort aus dieser Zeit,
in der der Schoß, der immer fruchtbar war,
den alten Judenhass erneut gebiert.
Ich weine, Gertrud, um dein Kleid, dein Haar ...
Die Krähen schreien, und mich friert!
Literaturpreis der KünstlerGilde Esslingen 2024
Erster Preis Lyrik