Kurt Tucholsky
Das Leben ist doch goldisch!
Lyrik & Prosa
Textauswahl: Marlies Kalbhenn
Illustrationen: Christiane Tietjen
Marlies Kalbhenn Verlag
ISBN 978-3-9814018-9-9
Unverbindlicher Richtpreis 9,80 €
Kurt Tucholsky wurde am 9. Januar 1890 in Berlin als Sohn jüdischer Eltern geboren. Er
studierte Jura, erwarb den Doktortitel, arbeitete aber bereits während des Studiums als Journalist. Im April 1915 wurde er Soldat, zuerst im Baltikum und dann in Rumänien. Als getaufter
Protestant, vor allem aber als überzeugter Pazifist nahm er nach dem Krieg in Berlin seine journalistische Tätigkeit wieder auf. Der Vielschreiber legte sich vier Pseudonyme zu und publizierte
nun auch unter den Namen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel.
In den folgenden Jahren versuchte er, wie sein Kollege Erich Kästner es später formulierte: „die Katastrophe mit der Schreibmaschine aufzuhalten“. Aber Tucholsky war auch ein glänzender Redner,
der dem Krieg auf vielen Versammlungen mündlich den Krieg erklärte. Neben scharf geschliffenen politischen Essays und beißenden Satiren schrieb er Chansons für die Berliner Salons. Der kleine
dicke Dichter war ein Liebling der Frauen. Er war zweimal verheiratet und zweimal geschieden. Nach seinem Tod fand sich ein Abschiedsbrief an seine zweite Frau Mary Gerold, in dem er ihr gestand,
dass sie seine einzige Liebe gewesen sei.
Nach einem kurzen Ausflug ins Bankgeschäft ging Tucholsky 1924 als Journalist nach Paris. Im Sommer 1929 verlegte er seinen Wohnsitz nach Schweden. Bis 1931 schrieb er noch von dort für die „Weltbühne“.
Zwei Jahre später wurden seine Bücher verbrannt und ihm selbst wurde die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Krank, vereinsamt und mundtot gemacht, starb Kurt Tucholsky nach der Einnahme
einer hohen Dosis Schlaftabletten am 21. Dezember 1935 in einem Göteborger Krankenhaus.
Fünfundvierzig Texte aus einem Werk, das mehrere tausend umfasst, für die vorliegende Anthologie auszuwählen, war die eigentliche Herausforderung. Dabei haben persönliche Vorlieben ebenso eine
Rolle gespielt wie der Wunsch der Illustratorin, gerade diesen oder jenen Text „ins Bild zu setzen.“ – Mögen alle, für die das Werk Kurt Tucholskys weitgehend literarisches Neuland ist, Lust auf
„mehr Tucholsky“ bekommen, mögen die anderen bekannte Texte neu lesen und sehen und bisher unbekannte entdecken: Nicht mehr, aber auch nicht weniger versprechen wir uns mit der Herausgabe dieses
Buches. (Klappentext)
***
„Es zeugt sowohl von der geschmacklichen Harmonie des Duos Kalbhenn-Tietjen als auch von der gründlichen Literaturkenntnis der Verlegerin, dass hierbei eine fast repräsentative Auswahl gelungen
ist. Es ist ein Buch zum Gernhaben, denn es ist einfach ‚„goldisch‘“. (Ralf Kapries, Neue Westfälische)
***
„Es ist hervorragend gelungen.
Glückwünsche an Verlag, Verlegerin und Illustratorin!“
(Wolf Dieter Hahn, Lüneburg)
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Augen in der Großstadt
Biografie für viele
Brot mit Tränen
Das Ideal
Das verzauberte Paris
Der schiefe Hut
Die Apotheke
Die arme Frau
Die Familie
Die fünf Sinne
Die fünfte Jahreszeit
Die Katz
Die Kunst, richtig zu reisen
Einfahrt
Es gibt keinen Neuschnee
Gefühle
Halt auf freiem Felde
Heimat
Ich gehe mit einer langen Frau
In Weißensee
Jemand besucht etwas mit seinem Sohn
Kindertheater
Koffer auspacken
Kreuzworträtsel mit Gewalt
Liebespaar in London
Lottchen beichtet 1 Geliebten
Luftveränderung
Media in Vita
Moment beim Lesen
Mutterns Hände
Neues Leben
Park Monceau
Regenschwere Pause
Rezepte gegen Grippe
Rheinsberg
Sie schläft
Stoßseufzer einer Dame in bewegter Nacht
Was darf Satire?
Was unternehme ich Silvester?
Wenn eena jebohrn wird
Wo kommen die Löcher im Käse her?
Wo lesen wir unsere Bücher?
Zeugung
Zu tun! Zu tun!
Über Kurt Tucholsky
Brot mit Tränen
Manchmal, wenn etwas Fürchterliches passiert ist, muss man nachher essen. Das ist eine seltsame Art zu essen … Ekel vor dem Alltag, Scham, ihm unterworfen zu sein, sind überwunden – denn erst hat der Gedanke so weh getan, nun, nach solchem Geschehnis, etwas zu essen. Dann erfüllt das Gefäß des Schmerzes eine Formalität. Es ist gar kein Essen. Ja, es wird wohl dem Körper eine Nahrungszufuhr vermittelt, das ist wahr, und es rutscht auch hinunter. Aber die Augen brennen noch verschleiert von Tränen, salzig fällt es auf die Butterbrote, vom Pathetischen zum Trivialen ist es nur eine Nasenspitze weit. Die Backen kauen, die Kehle schluckt, die Hand umklammert irgendetwas Brotiges. Aber es schmeckt nach nichts, es ist eine unnütze Geste, dieses Essen. Es widert einen an, das da. Einmal, da starb einer Verwandten der Mann. Das war um sieben. Als er tot war, saßen nachher alle bei Tisch, gezwungenermaßen, wie nach einer geschlagenen Schlacht, nach einer Niederlage. Es war aus. Niemand sprach. Dann aber sprach jemand, und ich werde nie die Stimme der Frau vergessen, die da zu ihrer Schwester sagte, schluchzte, nass stöhnte: „Wo hast du die Eier her –?“ Und die andere, tonlos, leergeweint, am Ende: „Von Prustermann. Sind sie nicht gut –?“ Seht, so holt sich das Leben seine Leute wieder, die ins Land der Trauer auf Urlaub gehen.
Die fünfte Jahreszeit
gekürzt
Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es – wenn der späte
Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat –: dann ist die fünfte Jahreszeit. Nun ruht es. Die Natur hält den Atem an; an andern Tagen atmet sie unmerklich aus
leise wogender Brust. Nun ist alles vorüber: geboren ist, gereift ist, gewachsen ist, gelaicht ist, geerntet ist, nun ist es vorüber. Nun sind da noch die Blätter und die Gräser und die
Sträucher, aber im Augenblick dient das zu gar nichts; wenn überhaupt in der Natur ein Zweck verborgen ist: im Augenblick steht das Räderwerk still. Es ruht. Mücken spielen im schwarz-goldenen
Licht, im Licht sind wirklich schwarze Töne, tiefes Altgold liegt unter den Buchen, Pflaumenblau auf den Höhen … kein Blatt bewegt sich, es ist ganz still. Blank sind die Farben, der See liegt
wie gemalt, es ist ganz still. Boot, das flussab gleitet, Aufgespartes wird dahingegeben – es ruht. So vier, so acht Tage. Und dann geht etwas vor. Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist
noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles. Es geht wie ein Knack durch die Luft – es ist etwas geschehen; so lange hat sich der Kubus noch
gehalten, er hat geschwankt …, na … na …, und nun ist er auf die andere Seite gefallen. Noch ist alles wie gestern: die Blätter, die Bäume, die Sträucher. Aber nun ist alles anders. Das Licht ist
hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist gebrochen – nun geht es in einen klaren Herbst. Wie viele hast du? Dies ist einer
davon. Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören. Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden – es ist nicht der
Johannistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes. Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne
Zeit im Jahre. Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.
Liebespaar in London
Auszug
(...) Und inmitten einer emsig dahintreibenden Welt, die ins Freie hinaus will, steht die Gruppe dieser beiden, bewegt und mit schlagenden Herzen in einer wächsernen Welt, die sie nicht sieht und
die sie nicht sehen. Versunken … Da stehen sie und sehen sich an, er wartet, und sie ist schon bei einem andern, mit dem sie eins zu werden hofft, da stehen sie, unrettbar und unweigerlich zwei,
man kommt ja immer nur auf Sekunden zusammen, und dann schlägt das Gewoge über ihnen zusammen, der Straßensänger krächzt sein Lied, und die schweren Autobusse schmettern und stampfen vorüber,
hinaus in die grünen Vorstädte, wo der englische Rotdorn blüht.
Stoßseufzer einer Dame, in bewegter Nacht
Auszug
Der Teufel hol den schwarzen Kaffee,
Wieviel Uhr mag’s denn sein?
Ich kann ja nicht, kann ja nicht schlafen!
Und neben mir der alte Affe
Schläft immer gleich ein,
Und ich kann nicht, ich kann nicht schlafen!
Ich bin ja noch munter und plage mich
Und guck an mir runter und frage mich:
Sind das meine Beine
– oder sind das seine Beine
Oder sind das unsre Beine – oder wie?
Mensch, schlaf nicht – schlaf bloß nicht –
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